Den meisten ist George Orwell als Autor von Animal Farm und 1984 bekannt. Beide Romane konnten in Unkenntnis der Biographie des Autors als reine Kritik am Kommunismus gelesen werden, dies trug im Klima des Kalten Krieges wohl zu deren Erfolg im Westen bei. Doch anders als es die antikommunistischen Rezipienten gerne hätten, spielt 1984 nicht in Russland, sondern in England und dies ist kein Zufall.
Orwell hatte 1984 nicht in der Absicht geschrieben, gegen den Sozialismus oder die Labour Party zu agitieren; vielmehr wollte er mit seinem Roman darauf aufmerksam machen, dass der Totalitarismus [1]auch im Westen obsiegen könnte, wenn man ihm nicht entschlossen genug entgegentrete. Die linksliberale 1984-Rezeption wiederum beschränkte sich meist nur auf die technischen Überwachungsaspekte des Buches. Die Kritik an der Geschichtsschreibung, der Umbau der Sprache, die Abkehr vom Wahrheitsgedanken und der Verfall des Rechtssystems wurden ausgeklammert: Denn bei diesen Themen würden viele linksliberale und postmoderne Rezipienten selbst von Orwells Kritik getroffen.
Dem Sozialisten Orwell kann die rein antikommunistische Lesart seiner Bücher nicht angelastet werden. Er schrieb seine Kritik um den Gedanken an eine befreite Gesellschaft zu retten und hatte zeitlebens nie ein Geheimnis um seine Sympathie für eine vernünftig eingerichtete Welt gemacht. In seinem Text Zur Verhinderung von Literatur aus dem Jahre 1946 schrieb er: „Einem kann man zustimmen, und die meisten aufgeklärten Menschen tun dies auch: daß, wie die Kommunisten erklären, wahre Freiheit nur in einer klassenlosen Gesellschaft möglich sei und daß heute derjenige schon annähernd frei ist, der für das Zustandekommen einer solchen Gesellschaft kämpft.“ (George Orwell: Rache ist sauer. Zürich 1975, S. 81)
Trotz seines Engagements in der linkssozialistischen Partido Obrero de Unificación Marxista (POUM) während des Spanischen Bürgerkriegs blieb auch die radikale Linke vor seiner schneidenden Kritik nicht verschont. Dass sie die Kritik traf, war zwei Umständen geschuldet: die Anhängerschaft oder zumindest Duldung der stalinistischen Politik und ihr Pazifismus im Zweiten Weltkrieg.
„Objektiv betrachtet ist der Pazifist pro-nazistisch.” (George Orwell)
Entgegen der eigenen Selbstdarstellung, hatten sich die Gruppen und Parteien links der Labour Party im Kampf gegen die Nazis nicht mit Ruhm bekleckert. Als deutsche Kampfflugzeuge Großbritannien bombardierten, flüchtete sich ein Großteil der britischen Linksradikalen in einen abstrakten Pazifismus und verurteilte den Kriegseintritt Großbritanniens. Dem kriegsbefürwortenden Orwell blieb nichts anderes übrig als 1940 enttäuscht zu schreiben: „Ich war eine Zeitlang Mitglied der Independent Labour Party, trat aber zu Beginn des gegenwärtigen Krieges wieder aus, weil ich glaubte, dass diese Leute Unsinn redeten und eine politische Richtung verfolgten, die Hitler seine Vorhaben nur erleichtern konnten. (Ebd., S. 8) Als einer der den Antisemitismus [2]ernst nahm, wusste Orwell auch, welche Frage der Lackmustest für den Pazifismus war: „Was passiert mit den Juden und Jüdinnen?“ kann man einfach zusehen wie sie ausgerottet werden und welche anderen Mittel als der Krieg bleiben, um die Vernichtung der Juden und Jüdinnen zu verhindern. Denn: „Wann und wo ist je ein moderner Industriestaat zusammengebrochen, sofern er nicht von außen mit militärischen Mitteln erobert worden ist?“ (Ebd., S. 26) Bis auf Gandhi seien dieser Frage alle Pazifisten und Pazifistinnen aus dem Weg gegangen und dieser habe die Frage in einer Deutlichkeit beantwortet, die in jedem Pazifisten und jeder Pazifistin die Abscheu vor sich selbst hätte hervorrufen müssen. Gandhi plädierte für einen kollektiven Selbstmord der Juden und Jüdinnen, um Deutschland und die Welt gegen Hitler aufzurütteln. Nach dem Krieg rechtfertigte er dies mit dem Umstand, dass die Juden und Jüdinnen sowieso gestorben wären. (Vgl. Ebd., S. 167)
Abseits seiner Kritik am Pazifismus lenkt Orwell den Blick auch auf einen weiteren Aspekt, der auch heute noch wirkmächtig ist: „Die Wahrheit wird zur Unwahrheit, wenn der Feind sich äußert.“ (Ebd., S. 16) Kriegsverbrechen die gestern noch geglaubt wurden, bezweifelte die britische Linke ab dem Zeitpunkt, als auch die englische Regierung ihren Blick auf sie warf. Wusste die Linke in Großbritannien vor 1938 bestens über die Vorgänge in Deutschland Bescheid, zweifelte sie nach dem Kriegseintritt Großbritanniens gegen Deutschland sogar an der Existenz der Gestapo.
Freunde machte sich Orwell mit derlei Analysen in weiten Teilen der Linken natürlich keine. Doch sein Wahrheitsanspruch war ihm wichtiger als Leuten zu schmeicheln die zufällig auch irgendeine Vorstellung von Sozialismus hatten. So schrieb Orwell 1948: „Vielleicht ist es nicht einmal ein schlechtes Zeichen für einen Schriftsteller heute, reaktionärer Tendenzen verdächtigt zu werden, so wie es vor zwanzig Jahren ein schlechtes Zeichen gewesen wäre, nicht der Sympathie für den Kommunismus verdächtigt zu werden.“ (Ebd., S. 179)
[1] Orwells Totalitarismus Begriff liest sich sehr klassenkämpferisch und ist an die marxistischen Faschismustheorien seiner Zeit angelehnt: „Eine Gesellschaft wird immer dann totalitär, wenn ihre Struktur offenkundig künstlich wird, das heißt, wenn die herrschende Klasse ihre eigentliche Funktion verliert und sich nur noch durch Gewalt oder Betrug an die Macht klammert.“
[2] Den Antisemitismus verortete er nicht nur in Europa und in seiner Aufzählung der Anhänger des Faschismus finden sich neben den europäischen Nazikollaborateuren auch die Namen, Ezra Pound, Father Coughlin und den Mufti von Jerusalem. In einem Reisebericht über Marrakesch schrieb er bereits 1939 über den Antisemitismus den er dort vorfand. (George Orwell: Im Inneren des Wals. Zürich 1975, S. 81)